Im April 2016
Die Lammzeit
Die Wirklichkeit liebt die Symmetrien und die leichten Anachronismen.
J. L. Borges: Der Süden
Jede Lammzeit ist anders, auch wenn sich scheinbar alles wiederholt. Jede Lammzeit hat ihre eigene Atmosphäre, und die scheint mal aus dieser, mal aus einer anderen Zeit zu stammen. Die jüngste Lammzeit fand einfach statt: Mit den Schafen und Lämmern, mit Hanna und Lilly und dem Schäfer. Sie fand einfach statt, hier und jetzt, egal in welchem Jahr, fand statt in der zeitlosen Ewigkeit des Augenblicks, irgendwo zwischen Lachen und Weinen, zwischen Atem anhalten vor Aufregung und dem ersten Atemzug eines neuen Lämmchens.
Die Lammzeit begann überraschend mit den ersten auf den Salzwiesen geborenen Lämmern, ein paar Tage früher als der Schäfer es erwartet und bevor er die Schafe ans Haus geholt hatte. Auch war er noch allein mit den Schafen, denn Hanna und Lilly waren noch nicht angereist. Aber weil diese Lämmer genau an Hannas 11. Geburtstag geboren worden waren, nannte der Schäfer sie die Hanna-Lämmer.
Die Hanna-Lämmer entwickelten sich prächtig und strolchen bereits mit ihrer Mutter über die Salzwiesen. Lilly hat sie noch in der Scheune erlebt, denn sie war das erste Mädchen, das auf Gröde eintraf, um die Osterferien zu verbringen. Mit Eldred, dem Nachbarmädchen, schloß sie schnell Freundschaft und verwöhnte mit ihr die ersten Lämmer. Als Hanna ein paar Tage später auf Gröde an Land ging, mit gelbgrüner Wollmütze, dick gestrickt, und ebenso dick gestricktem Schal, in blauer Jacke und braunen Lederstiefeln wirklich stadtfein wirkend, hatten Lilly und der Schäfer die ersten Lämmer bereits auf die Wiesen gebracht.
Hanna und Lilly besaßen die Neugier, den Mut und die Offenheit, sich auf das Halligabenteuer Lammzeit einzulassen. Und mit hellem Lachen im Wind bestärkten sie sich, Seite an Seite mit dem Schäfer und seinen Schafen alle Herausforderungen ihrer neuen Wirklichkeit zu meistern.
Sie teilten sich ein Zimmer, dessen Fenster sich direkt zum Pferch der Schafe öffnete. Sie beobachteten von dort kichernd den höchstschwangeren, bedächtigen Schaukelgang und das Stöhnen der dicken Schafdamen, die wiederkäuend und rülpsend unterm Fenster lagen. Manchmal kletterten sie hinaus zu ihnen, und sie gaben dem Schäfer Bescheid, wenn die Anzeichen eindeutig waren:
Da drückt eine, sagten sie, es ist schon eine Blase zu sehen.
Und damit wurde es spannend für Hanna und Lilly. Aufgeregt schnell schlüpften sie in die alten Hosen, die bald genau so schmutzig aussahen wie die des Schäfers, in denen er den ganzen Tag herumlief, Jacke an und Gummistiefel. Die gelbgrüne Mütze, dick gestrickt, und der ebenso dick gestrickte Schal waren bald vergessen, denn das Wetter war ganz passabel, und stadtfein gehörte inzwischen zu einer anderen Wirklichkeit.
In der Scheune bereiteten sie schnell eine Einzelbox für Schaf und Lämmer vor und beobachteten dann, wie die Lammung voranging.
Kommt schon ein Fuß?
Ja, einer ist schon da. Jetzt drückt sie wieder.
Los, Dolly, du schaffst das!
Der zweite Fuß ist auch zu sehen, und da die Zunge, ich sehe die Schnauze vom Lämmchen.
Oh nein, warum steht sie denn jetzt auf?
Schaf Dolly hieft ihren schweren Körper hoch und stakst mit steifen Hinterbeinen umher, gähnt herzhaft, schlabbert ein wenig vom Fruchtwasser der geplatzten Blase, steht dann mit gesenktem Kopf, horcht in sich hinein, scharrt mit dem linken Vorderfuß, legt sich wieder hin und überläßt sich abermals den Wehen, die mit Macht ihren dicken Bauch durchlaufen, preßt, stöhnt laut, preßt noch einmal, bis der Kopf sich durch die enge Öffnung schiebt, und dann ist plötzlich das ganze Lamm draußen, zieht Luft in seine Lunge und schnaubt sie schnotternd wieder aus: Der erste Atemzug.
Kopfschüttelnd liegt das Lamm da, als könnte es noch gar nicht fassen, was ihm passiert ist. Schaf Dolly ist inzwischen aufgestanden und schleckt es ab, Kopf, Hals, Körper, überall, dabei leise meckernd, und dann erklingt ein erstes zartes, schüchternes „mäh“, ganz hell.
Hanna und Lilly strahlen sich an:
Das hat sie ganz allein hingekriegt. Super Dolly!
Der Schäfer brauchte dir nicht zu helfen.
In hellem Lachen verliert sich ihre Anspannung. Vor Aufregung hatten die staunenden Mädchen ständig geredet, und der Schäfer hatte mit ihnen ein Flüstern vereinbaren müssen, um Schaf Dolly nicht zu stören, während sie in der Nähe die Geburt beobachteten.
Die Mädchen teilen ein Zimmer, sie teilen die Aufregung und die Lust, dabei zu sein. Sie teilen gemeinsame Erlebnisse mit den Schafen und den Lämmern. Wie paßt diese Wirklichkeit mitten in der Halliglammzeit zu ihrer anderen Wirklichkeit in Stadt und Schule? Ob sie für die Ferien nur den Ort wechseln oder auch die Zeit? Lernen tun sie auch hier, aber es sind Dinge aus scheinbar anderen Zeiten.
Schaf Dolly bekam noch ein zweites Lamm und weitere Schafe gebaren weitere Lämmer, jedesmal unter fürsorglicher Aufsicht der Mädchen. Und wenn nur ein Fuß kam oder es partout nicht weitergehen wollte mit der Geburt, holten sie den Schäfer, der Schaf und Lamm helfen konnte. Sie hatten die Einzelboxen gut vorbereitet mit Heu und Wasser, sauber ausgestreut, und brachten Schaf und Lamm dann in die Scheune.
Bald rückte der Tag näher, an dem die Mädchen eigentlich abreisen sollten, und es war klar, daß der Schäfer ein paar Tage alleine auf dem Hof bleiben würde, denn seine Frau wollte auch verreisen. Da hatten die Mädchen eine Idee und schrieben ihm einen Brief, in dem drei gute Gründe standen, warum sie unbedingt noch bleiben müßten:
- Ferienwohnungen putzen
- Hühner füttern
- Essen kochen:
z.B. Würstchen mit Bratkartoffeln und Rotkohl, Pfannkuchen oder Kaiserschmarrn mit Apfelmus, Spiegelei mit Bratkartoffeln und Salat und Rührei mit Brot.
P.S.: Alle guten Dinge sind drei.
Lilly und Hanna.
Die Mädchen waren ganz in die Welt der Schafe und Lämmer eingetaucht, die magisch in der Gegenwart die Ewigkeit des Augenblicks leben. Der Schäfer jedoch lebte im Fluß der Zeit. Er dachte an gestern und an morgen, und es überforderte ihn die Vorstellung, einige Tage allein mit der vielen Arbeit zu sein und dabei auch noch auf die beiden Mädchen aufpassen zu müssen. Am Abend fand er den Brief auf seinem Bett liegen. Als er ihn las, wurde ihm leichter ums Herz. Die Mädchen hatten ihn befreit von seinen Sorgen. Ihre Zeilen riefen die Lachfalten in seinem Gesicht wieder wach und holten ihn in den Augenblick zurück.
Alle guten Dinge sind drei: Hanna, Lilly und der Schäfer.
Die Mädchen können das, dachte er plötzlich, und das stellten sie gleich am nächsten Morgen unter Beweis, als sie bei einer Geburt helfen mußten. Diesmal hielt der Schäfer das Schaf nur fest und ließ die Mädchen die Lämmer herausziehen. Mit aufgekrempelten Armen gingen sie behutsam zu Werke, zogen erst einen Fuß, dann den anderen und schließlich das ganze Lamm heraus und legten es dem Schaf vor die Schnauze.
Welch einen strahlenden Glanz entdeckte der Schäfer mit Freude in den Augen der Mädchen — stolz waren sie. Er hatte sie nur angeleitet und sie alles allein machen lassen. Die Mädchen kümmerten sich mit Hingabe, und so konnte er beruhigt mit den anderen Halligmännern zur Arbeit gehen. Er wußte jetzt, dass seine Schafe und Lämmer für die nächsten Stunden in guten Händen waren. Mittags aßen sie zusammen Würstchen mit Bratkartoffeln und Rotkohl.
Die Mädchen besuchten auch die Schafe und Lämmer auf den Salzwiesen, von denen sich einige gerne bekuscheln ließen. Ein Lamm, das beim Spielen in der Ewigkeit des Augenblicks seine Mutter aus den Augen verloren hatte, brachten sie ihr zurück, die schon laut blöckend und suchend in Richtung Warft lief.
Die Ewigkeit des Augenblicks kann man nur leben, niemals festhalten. Wenn er vorbei ist, bleibt nur ein Traum und ein wenig Traurigkeit als Krönung einer wunderschönen Zeit. Viel zu schnell verflogen Hannas und Lillys intensive Tage mit den Tieren und dem Schäfer, viel zu schnell verflog das helle Lachen der Mädchen im Wind. Wieder näherte sich der Tag der Abreise, näherte sich die andere Wirklichkeit mit Stadt und Schule, noch durchfärbt von den Erlebnissen und Bildern der Halliglammzeit.
Wie ein langes Festhaltenwollen zum Abschied, als das Schiff am Halliganleger festmachte, standen sie dicht beieinander: Der Schäfer in seinen schmutzigen Hosen und seine beiden tollen Stadtmädchen, jetzt wieder stadtfein, die für einen ewigen Augenblick zu echten Halligmädchen geworden waren.
Lange noch winkte er ihnen nach, wie sie an der Reling stehend übers Meer zu ihm schauten. Die Sonne glitzerte auf das Wasser ihre strahlenden Bilder, und als die Mädchen für einen Augenblick ihre Augen schlossen wurde wieder ein Lamm geboren.
Schau Lilly, da kommt ein Fuß.
Und ich sehe schon die Zunge. Die ist ganz dick.
Wo ist der andere Fuß?
Hanna, ich glaube wir müssen helfen.
Meinst Du wir sollten den Schäfer holen?
Ich fühle den Fuß, er ist nur umgeknickt da unter dem Köpfchen, ich hab ihn schon — ziehen und …
Noch einmal hörte der Schäfer das helle Lachen der Mädchen.